Irene Diwiak (11)

Der Glückszehner

Ein Mann mit Lederjacke war am Bahnhof angelangt. Er schüttelte dem Lokführer freundschaftlich die Hand. Anscheinend kannten sie sich schon lange.
»Na, Hansen, wohin geht die Reise?« fragte der Lokführer.
»Nach Wien, wie immer«, antwortete Hansen.
»Aha, aha!« murmelte der Lokführer. »Und, den Glückszehner dabei?«
Hansen lachte. »Immer doch, ohne den finnischen Glückszehner kann ich doch nicht reisen.« Er griff in seine linke Hosentasche und erstarrte. Die finnischen zehn Cent waren nicht drinnen! Er lächelte verlegen. »Ich bin zur Zeit etwas schlampig. Da kann es passieren, dass ich den Zehner in die rechte Hosentasche oder in eine Jackentasche gesteckt habe.«
Der Lokführer verdrehte die Augen, denn Hansen war die Ordnung in Person. Hansen selbst wusste das auch. Aber ohne den Zehner stieg er in keinen Zug, und schon gar nicht, wenn er so weit bis nach Wien fahren musste. »Entweder steigst du jetzt ein, oder wir müssen ohne dich abfahren!« sagte der Lokführer genervt.
»Aber der Zehner …«, stammelte Hansen.

Eva, ein großes, dunkelhaariges Mädchen, stand vor der Schule und starrte auf den Boden. Dort lag ein Zehncentstück, ein finnisches, wie Eva feststellte. Sie hob es auf. »Wem es wohl gehört?« fragte sie sich. Eva wollte niemanden bestehlen, auch wenn es nur um zehn Cent ging.Sie ging den Besitzer suchen, aber wenig später gab sie erschöpft auf. Wenn jemand zehn Cent verlor, merkte er es wahrscheinlich gar nicht, geschweige denn würde er danach suchen. Außerdem wollte Eva nach Hause, das Suchen hatte sie müde gemacht.

Sie wohnte mit ihren Eltern in einer kleinen Wohnung neben dem Bahnhof. Eva hasste es, über den Bahnhof zu gehen, weil dort sehr oft Besoffene herumlungerten und einander unartige Witze erzählten. Heute aber war es anders.
Der Bahnhof war leer, nur ein Mann in Lederjacke saß verzweifelt auf einer Bank. Eva schien er sehr nett zu sein, und deswegen scheute sie auch nicht, ihn zu fragen, was los sei. »Der Glückszehner! Ich kann nicht reisen ohne den Zehner!« heulte Hansen.

Da fingen Evas Augen an zu leuchten. Sie kramte die finnischen zehn Cent heraus. »Diese hier?« fragte sie und hielt ihm die Zehncentmünze vor die Nase. Er betrachtete sie kritisch, sah den finnischen Löwen und rief: »Ja! Mein Reisezehner! Wie kann ich dir nur danken?«
Eva zuckte nur mit den Schultern. »Gar nicht!« antwortete sie nach einiger Zeit.
»Na gut«, meinte Hansen. »Aber ich muss jetzt auf den nächsten Zug warten. Willst du mir Gesellschaft leisten?« Und wie Eva wollte.

Sie lachten noch viel und redeten Quatsch, und beide waren traurig, als der Zug ankam.